Wie du in mir noch lebst, bin ich mit dir gestorben. 
Wie sich ein Teil von dir noch regt in meinem Tun, 
so will ein Stück von mir in deinem Frieden ruhn. 
Wie du noch Heimat hast durch mich in dieser Welt, 
so wird im andren Land durch dich mein Haus bestellt.

 

Mein geliebter Christian,

diese Zeilen fallen mir wohl am schwersten. Denn in diesen bringe ich „zu Blatt“, was schwer auf meinem Herzen lastet, seit du nicht mehr bist. Dieser Gedanke begleitet mich neben meiner Sehnsucht nach dir, neben meiner großen Traurigkeit, neben der großen Leere, die mein Dasein bestimmt, durch den Tag: Die Verantwortung für deinen frühen Tod. Hätte ich ihn verhindern können? War ich zu unachtsam? Habe ich alles Menschenmögliche gemacht, um ihn zu verhindern? All diese Fragen stelle ich mir immer und immer wieder. Und immer und immer wieder gebe ich mir die Antwort: „Nein, ich habe nicht alles gemacht. Habe die Dinge laufen lassen und darauf gesetzt, dass du die schlechten Zeiten immer wieder überstehst.“ Du warst wirklich der Mittelpunkt unseres Lebens. Hätte mich zu deinen Lebzeiten jemand gefragt: „Wie definierst du Glück?“, so wäre die Antwort gewesen: „Christian“. Das habe ich so und nicht anders empfunden. Wenn ich auch so viel gemacht habe, was mir wichtig erschien und ich immer in Eile war, weil diese und jene Arbeiten noch angestanden sind, so habe ich mich dennoch nur dann richtig wohl und geborgen gefühlt, wenn du in meiner Nähe warst. Wenn du nicht bei mir warst, war mein steter Gedanke, geht´s dir wohl gut? Achten die Menschen, die gerade auf dich schauen, wohl ausreichend auf dich? Und wenn es an der Zeit war, dass du nachhause kommst, war Vorfreude in mir. Das Leben mit dir hat Einschränkungen und Verzicht bedeutet – ja, und auch sehr oft Überforderung. All das hat mir nie etwas ausgemacht. Mit Freundinnen ausgehen, einen neuen Partner finden, Hobbys nachgehen (einmal abgesehen von meinem Projekt) war für mich bedeutungslos. Ich war so stolz, weil ich das Leben mit dir so gut gemeistert habe. Wir haben Höhen und Tiefen durchlebt und sind zu einem eingespielten Team geworden. Du hast mich gebraucht, ich dich aber noch viel mehr. Schon zu deinen Lebzeiten war mir klar, dass ich all die Energie und Motivation für meine Aktivitäten aus dir speise. Wenn du mich umarmt hast oder mich mit deinen gütigen Augen angesehen, war mir, als bekäme ich eine riesengroße Portion Kraft. Ich habe mich so unangreifbar gefühlt und stark.

Manchmal funkeln die Sterne am hellichten Tag, zum Beispiel, wenn ich in deine Augen schaue. Manchmal spür ich die Sonne in tiefster Nacht. Zum Beispiel, wenn du mich anlachst. Manchmal wird mir warm ums Herz in all der Kälte. Zum Beispiel, wenn du in meiner Nähe bist.

Du hast uns deine Liebe geschenkt und uns vertraut. Du hattest ja gar keine andere Wahl. Deine Krankheit hat für dich Abhängigkeit bedeutet. Abhängigkeit von deinen Eltern und von der Gunst fremder Menschen Du musstest die Entscheidungen, die für dich getroffen wurden, einfach akzeptieren. Sie wurden aber immer mit Bedacht getroffen. Immer im Glauben, diese Entscheidung sei jetzt die richtige für dich. Wir haben es uns nie leicht gemacht, bestimmt aber nicht immer richtig gehandelt.

Nachdem du mit 10 Monaten nach einer Gehirnhautentzündung in deiner Entwicklung beeinträchtigt warst und vor allem die Folge davon deine Epilepsie war, sind wir von Pontius zu Pilatus gerannt: Vom Spezialisten über den Naturheiler bis zum Wunderheiler. Nichts haben wir unversucht lassen. Bis sich in mir, in uns, der Gedanke entwickelt hat, dich so sein zu lassen wie du bist und dir so wenig wie möglich an Medikamenten zuzumuten. So viel wie nötig, so wenig wie möglich und dir dein Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. So viel könnte ich noch erzählen. In deinem Erwachsenenleben ist noch aufgrund der jahrelangen Medikamentengabe ein Magenleiden hinzugekommen und aufgrund deiner verzwickten Situation war es für dich auch schwer, deine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Alles in allem mussten wir viel im Auge behalten und das könnte womöglich auch der Grund dafür sein, dass ich die Gefahr deiner Epilepsie, an die wir uns in all den Jahren „gewöhnt“ haben, unterschätzt habe. Natürlich waren wir in den Phasen, in denen es dir schlecht gegangen ist und du schwere Krampfanfälle hattest, niedergeschlagen und traurig, aber immer im Wissen, dass nach den schlechten Zeiten wieder gute kommen. Auch das war ein großer Diskussionspunkt zwischen mir und deinem Vater. Er wollte einen Arztwechsel. Ich glaubte, den besten gefunden zu haben, den es gibt. Heute bin ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob es nicht doch besser gewesen wäre, noch einmal einen Versuch zu starten. Aber wie oft haben wir Ärzte gewechselt und gehofft, sie könnten helfen und schlussendlich ist es doch keinem gelungen. So hatte ich das Gefühl, wir sind gut aufgehoben, vor allem deshalb, weil dein behandelnder Arzt unsere Entscheidung, dich nicht mit den verschiedensten Medikamenten gegen dies und jenes vollzustopfen, akzeptiert hat.

Nun komme ich zu der entscheidenden Frage, die mich so bedrückt: Wie kann man einen Menschen, der an so einer unberechenbaren Epilepsie leidet, schutzlos alleine in seinem Zimmer schlafen lassen? Gewiss, du warst erwachsen und hast jeden Abend den Wunsch geäußert: „Mach Türe zu“. Diese Eigenständigkeit wolltest du dir nicht nehmen lassen. Aber du hast von der Gefahr ja nichts gewusst, aber wir schon. Und so warst du auf unsere Entscheidungen angewiesen und diese war falsch.

Ein paar Wochen nach deinem Tod bin ich zu deinem behandelnden Arzt gefahren. Ich wollte mich noch einmal verabschieden. Ich kann mich sehr gut erinnern, wie er mich in das Behandlungszimmer gerufen hat. Ich bin sofort in Tränen ausgebrochen. Er ist ruhig dagesessen und hat gewartet. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, hat er mir die Frage gestellt: „Fühlen Sie sich am Tod Ihres Sohnes schuldig.“ „Ja, hätte ich nur so hinausschreien wollen, ja, natürlich“. Gesagt habe ich aber: „Das weiß ich nicht.“ Ich war von der unmittelbaren Direktheit so betroffen, dass ich meine Schuldgefühle nicht eingestehen wollte. Er hat dann weitergeredet. „Ja, SUDEP. Davon wissen Sie ja, gerade bei Vollmond eine Gefahr.“ SUDEP. Ich wusste von keinem SUDEP. Ich nickte aber nur benommen. Er erzählte mir von einer Mutter, die ihren Sohn, der auch Epileptiker war, keine Sekunde aus den Augen ließ und als sie ihn dann doch einmal „in guten Zeiten“ in fremder Obhut ließ, ist er an einem plötzlichen Anfall gestorben. Vielleicht wollte er mich damit trösten, vielleicht auch sagen: „Gute Frau, zu wenig auf Ihren Sohn geachtet.“ Ich weiß es nicht. In jedem Fall, mein lieber Sohn, bin ich gleich nach Hause und an den Computer, um zu recherchieren, was SUDEP ist. Die folgenden Tage waren ein Schrecken für mich und haben meine Schuldgefühle verstärkt. Was ist, wenn du wirklich an SUDEP gestorben bist. Und ich habe mir die Frage gestellt, warum hat mich dein Arzt nie darauf aufmerksam gemacht. Das ist eine Gefahr, vor allem für männliche Epileptiker, eine Gefahr in der Nacht, eine Gefahr vor allem in deinem Alter. Nie und nimmer, nicht eine Sekunde hätte ich dich in der Nacht alleine schlafen lassen. Aber ich habe nichts davon gewusst. Den Vorwurf mache ich aber nicht dem Arzt, sondern mir. Hätte ich mich mit deiner Krankheit mehr auseinandergesetzt, wäre ich sicherlich auf dieses Phänomen gestoßen und damit auf die Einleitung aller Schutzmaßnahmen, die es nur geben kann. In meiner Verzweiflung habe ich folgende E-Mail an deine Tante geschrieben.

Liebe Irene,
Fortsetzung vom letzten E-Mail: Ich habe jetzt gerade nachgegoogelt. SUDEP heißt das Phänomen. Besonders gefährdete Personengruppe: Kurzum darunter fällt Christian. Seine Epilepsie-Art, die Dauer des Anfallsleidens, männlich (erhöhtes Risiko) und Alter: zwischen 30 und 40 Jahren. Ich habe das nicht gewusst. In dieser Broschüre steht, dass die Aufklärung von Epilepsie-Patienten und Angehörigen mangelhaft ist, weil niemand gerne darüber spricht. Dieser Umstand aber beklagenswert ist, denn mit bestimmt erarbeiteten Strategien dieser Tod verhinderbar sein kann. Ich könnte schreien. Und wieder: Hätte ich mehr recherchiert und geforscht über Christians Leiden als über Lesestrategien vielleicht würde er noch bei mir sein. Diese Erkenntnis ist das Schlimmste und da weiß ich eben nicht, wie ich damit umgehen werde können. Ich habe mich immer darauf verlassen, dass Christian es wieder packen wird, wenn die Serie kommt, unterstützt habe ich ihn nicht. Mit all dem Eifer und dem Ehrgeiz habe ich Christians Wohlergehen aus den Augen verloren. Nicht, dass er schöne Schuhe hat, Leiberln oder einen Urlaub, sondern die Bekämpfung seiner schweren Erkrankung. Die Strafe könnte nicht härter sein.
Lieben Gruß, Schwester

Ein paar Wochen nach deiner Obduktion: Der Amtsarzt ruft uns zu einem Gespräch, um das Obduktionsergebnis zu besprechen. Wir warten alle im Warteraum und mein Magen beginnt sich zusammenzuziehen. Was ist, wenn er jetzt verkündet, du seiest an SUDEP gestorben? Wie sollte ich mit dieser Schuld weiterleben? Nach einer mir erscheinenden Ewigkeit kommen wir in die Ordination. Der sympathische Arzt teilt uns mit: „Es tut mir leid, was ich Ihnen jetzt sagen muss. Sie würden jetzt sicherlich lieber hören, Christian wäre an einer Krankheit gestorben. Aber, er war ein pumperl gesunder junger Mann. Für seine Behinderung und Grunderkrankung in einem erstaunlich guten Zustand. Herz, alles im besten Zustand. Der obduzierende Arzt schreibt in seinem Bericht von einem sehr guten Pflegezustand. Er ist nach dem Obduktionsbericht an einem Anfall gestorben.“ Auch er versucht zu trösten. Der Tod gehört zum Leben und erzählt von tragischen Fällen aus seiner Praxis. Aber es kann keinen Trost geben. Er konnte nicht wissen, dass mich die Nachricht gleichermaßen erschüttert und erleichtert. Du warst pumperlgesund und musstest sterben, weil deine Eltern zu unachtsam waren. Aber wenn du an SUDEP gestorben wärst, wäre für mich noch viel schmerzhafter gewesen. Das Resultat ist das Gleiche. Du bist nicht mehr da. Ich habe den Arzt noch gefragt, ob du leiden musstest, was er vehement verneint hat. Ich weiß es nicht und glaube es auch nicht. Mit dieser Tatsache wollte er uns sicherlich verschonen. Bis heute fällt es mir schwer, mir dein Sterben vorzustellen. Bis heute stelle ich mich diesen Gedanken nicht. Es tut so weh. Ich konnte dir in deiner schlimmsten Stunde nicht beistehen. Du musstest diese Reise alleine und einsam antreten. Genauso wie ich es immer befürchtet und vorausgeahnt hatte.

Heute, nach einem Jahr und 4 Monaten urteile ich nicht mehr so streng mit mir. Dein Wohlergehen habe ich nie aus den Augen verloren. Den Schwerpunkt meiner Sorgen auf dein Magenleiden, das dir sehr zu schaffen gemacht hat, gelegt und auch auf das in den Griff bekommen deiner mitunter anstrengenden Verhaltensauffälligkeiten. Ich habe sie dir in keiner Sekunde meines Lebens übel genommen. Mir war immer klar. Es war deine Verzweiflung. Ich kann es aber drehen und wenden, wie ich es will. Ich fühle mich an deinem Tod schuldig.

Besonders schmerzt mich die Tatsache, dass wir so viele Pläne hatten, um dein Leben zu bereichern und zu erleichtern und du durftest das alles nicht mehr erleben. Ich glaube nicht, dass du gewusst hast, wie wertvoll du für deine Familie bist. Nicht im Geringsten konntest du erahnen, welch trauernde Menschen du hinterlässt.

Du hast mir dein Herz hinterlassen und meines mitgenommen.

Ich werde mir nie vergeben!