Sommer 2018

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Es ist jetzt mein Paradies.

Gedanken im zweiten Jahr

Mein geliebter Sohn,

die ersten Monate des zweiten Jahres, an dem du nicht mehr für mich da bist, schreibe ich auch im Rückblick auf. Viel hat sich nicht geändert. Ich denke nach wie vor noch jede Minute und jede Stunde an dich. Ich wache auf und mein erster Gedanke bist du, ich gehe schlafen und mein letzter Gedanke bist du.

Es wird besser, sagen die andern, es wird anders, sage ich. Denn der Schmerz hat sich gewandelt, aber er verlässt mich nicht.

Der Schmerz hat sich gewandelt, dennoch überkommt mich immer wieder Fassungslosigkeit. Es kann doch nicht sein, dass du nicht mehr zur Tür hereinkommst, nicht mehr auf deinen geliebten Balkon, von dir „Kon“ genannt, stürzt und aus sicherer Position das Geschehen draußen in der Welt beobachtest. Es kann doch nicht sein, dass ich nicht mehr deine Stimme höre und du zu mir „Gute Nacht, Mama, schlafe gut“, sagst. Es kann doch nicht sein, dass du mir nicht mehr in die Augen schaust und mich ohne Worte fragst: „Alles okay, Mama?“ Es kann doch nicht sein, dass du mir nie mehr entgegenstürmst und mich umarmst, dass ich glaube, mir bleibt die Luft weg.

Das Leben ist zur freudlosen Routine geworden. Ein Tag gleicht dem anderen. Ich stehe auf und gehe zur Arbeit, komme nach Hause und suche mir eine Beschäftigung. Ich möchte nicht verhehlen, dass die Arbeit mich stützt. Ich habe einen schönen Beruf. Ich bin Lehrerin und das war und bin ich schon immer sehr gerne gewesen. Seit du nicht mehr bist, hat sich in mir jedoch etwas verändert. Zuerst stand für mich Leistung im Vordergrund. Jetzt ist es aber auch die Beziehung zu den Kindern, die ich suche. Manchmal trösten mich ihr fröhliches Lachen, ihre „Liebesbeweise“ und die Suche nach Aufmerksamkeit von mir. Manchmal gehe ich durchs Schulhaus und denke mir, warum dürft ihr alle leben und mein Sohn musste sterben.

Als du mit zehn Monaten krank geworden bist, war das natürlich für mich als junge Mutter ein ungeheurer Schock und ich musste mich erst hineinfinden in diese große Lebensaufgabe. Bei all den Höhen und Tiefen, durch die wir gegangen sind, habe ich mir allerdings nicht ein einziges Mal die Frage gestellt: „Warum wir, warum unser Christian?“, obwohl es kaum jemanden hätte härter treffen können. Du warst ein Wonnepropen, ein Gedicht von einem Kind und von einer Sekunde auf die andere hat sich das Leben schlagartig verändert. Ich habe nie geklagt, nicht einmal empfunden, klagen zu müssen. Es war meine Aufgabe und in all den Jahren hat sich eine Bindung entwickelt, die nicht inniger hätte sein können.

Das Leben war allgemein nicht leicht. Das wäre ein Roman wert. Ich kann es eigentlich am besten mit einer Metapher beschreiben: Ich war ein Boxer in einem Ringkampf und habe einige Schläge eingesteckt, bin gestrauchelt, habe mir eine blutende Nase und viele Blessuren geholt, bin am Boden ausgezählt worden, aber ich habe mich in letzter Sekunde immer wieder aufgerichtet und nach jedem Aufrichten bin ich gestärkt hervorgegangen. Meine Devise war immer: Das Leben kriegt mich nicht unter, ich biete ihm die Stirn und dank dir kam in den letzten achten Jahren eine neue Devise hinzu: Das Leben ist schön. Dein Tod unter diesen tragischen Umständen, für den ich mich verantwortlich mache, war allerdings mein KO.

Das Leben geht nicht weiter, wie sie behaupten. Es hört auf. Nur die Tage verstreichen.  

Christianl, auch deinen ersten Gedenktag wollte ich zu deinen Ehren ganz schön gestalten. Du solltest wieder Mittelpunkt sein, es sollte ein „Fest“ werden, das deiner würdig ist. Und mein liebes Christianl, es ist wieder eine besondere Geschichte, die ich dir erzählen möchte. Sollte es wirklich „einen Himmel“ geben, von dem aus du mich beobachtest“, hätte es dir sicherlich wieder einen „Schmunzler“ abverlangt.

Alles sollte wieder ganz besonders werden. Es sollte eine eigene Gedenkmesse nur für dich sein. Es sollten wieder Lieder gespielt werden von Musikern, deren Texte das ausdrücken, was mein Leben im ersten Jahr bedeutet hat. Luftballone sollten in den Himmel steigen und dich von uns grüßen. Dein Garten sollte ein Blumenmeer werden. In einer persönlichen Runde von Menschen wollte ich dich wieder aufleben lassen.

Aber von Anfang an hat sich´s gewehrt. Als ich in der Pfarre angerufen habe, um ein Jahr nach dem schrecklichsten Tag meines Lebens die Messe zu organisieren, traf ich auf eine unfreundliche, geschäftige Mitarbeiterin, die mich wissen ließ, dass das nicht üblich sei. Den Pfarrer persönlich erreichen konnte ich nicht, um ihm mein Anliegen zu schildern – zu beschäftigt für einen Gesprächstermin. „Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder zum ersten Gendenktag eine eigene Messe wollte? Und in schon versöhnlicherem Ton kam der Nachsatz: „Also eine Eingedenkmesse ist natürlich kein Problem.“ Was bedeutet, dass bei einer Morgen- oder Abendmesse dein Name im Gedenken erwähnt wird. Alles in Ordnung. Das ist die Regel. Ich aber wollte es persönlich. Wieder Worte an dich richten, dir sagen, welche Verzweiflung sich in meinem Leben breit gemacht hat. Ich wollte, dass nur jene Menschen kommen, die noch an dich denken. Ich wollte, dass du wieder an einem Tag der Mittelpunkt deiner Familie bist. Es war für mich so ein Schock und hat eigentlich das verstärkt, was ich von der Institution Kirche halte. Wütend, verstört und aufgewühlt habe ich Martina, unserer Religionslehrerin an der Schule, erzählt, was ich erlebt habe und schließlich hat sie zugesagt, einen Gedenkdienst für dich zu halten. Wir haben Texte ausgesucht und gemeinsam geplant.Martina hat selber ein schlimmes Schicksal zu tragen. Sie hat ihre Tochter verloren und nicht nur sie, sondern auch noch ihr ungeborenes Enkelkind. Oft treffen wir uns im Schulhaus und ein kurzer Blick in die Augen verrät beiden: Heute geht es besser, oder jetzt tut es besonders weh.

Die begleitende Musik ist organisiert. Ich habe mich mit dem Musiker getroffen und die Lieder abgesprochen. Die Anzeige in der Zeitung und der Anhang sollten jene Menschen auf deinen ersten Jahrestag aufmerksam machen, die dich gekannt haben. Für einen anschließenden gemeinsamen Umtrunk hat dein Vater seine Wohnung bereitgestellt und zugesagt, dass er alles schön herrichten wird, was natürlich nur zum Teil passiert ist. Du kennst ihn ja. In solchen Situationen delegiert er schon gerne Arbeiten an jene, die er eigentlich versprochen hat, zu erledigen.Aber es sollte sich kein richtiges Gefühl mehr einstellen. Nur wenige Tage davor wollte ich eigentlich alles absagen, um den Tag in mich zu kehren und mit deiner Schwester Katharina zu verbringen, die dich so sehr vermisst. Ich habe es nicht getan und obwohl eigentlich alles nach Plan gelaufen ist, empfand ich eine ungeheure Leere und ein Ausgelaugtsein von der permanenten Trauer. Martina hat die Messe für dich gesprochen mit so viel Gefühl, es sind jene Menschen gekommen, die es für Wert empfunden haben, an dich zu denken, wir sind zu deinem Garten und anschließend zu Kaffee und Kuchen.

Liebes Christianl, es werden noch viele Gedenkjahre kommen, die wir bewältigen müssen – wir werden sehen.

Wenn Liebe einen Weg zum Himmel fände, und Erinnerungen Stufen wären, würde ich hinaufsteigen und dich zurückholen.

Nun sind die Sommerferien, auf die ich mich, als du noch warst, so sehr gefreut habe. Das war immer eine ganz besondere Zeit. Sommer, Ferienstimmung, da hat schon die Luft ganz anders gerochen. Zeit für dich und vor allem der alljährliche Sommerurlaub zum Meer, das du so gerne gemocht hast. Das gelingt mir noch nicht: Alleine jene Plätze aufzusuchen, an denen wir so gerne waren. Ans Meer fahren könnte ich schon gar nicht. Schon zu deinen Lebzeiten war es für mich unvorstellbar, ohne dich irgendwo hinzufahren. Vielmehr sind es die Erinnerungen, die mich an die Orte tragen, an denen wir gemeinsam so schöne Stunden verbracht haben. Mein Herz ist unsagbar traurig.

Das sind Bilder aus unserem letzten Jesolo-Urlaub in Italien. Wir waren auf dem Nachhauseweg, und obwohl du immer so gerne am Meer warst, hast du dich richtig gefreut, wieder heim zu fahren. Mein Gott, hätten wir gewusst, dass es unser letzter Urlaub sein wird. Wir haben schon Pläne geschmiedet, wohin es im nächsten Jahr gehen soll.