Sommer 2018

Gedanken im ersten Jahr – Rückblick

Mein geliebter Sohn,

es ist schwierig, im Rückblick die Gedanken niederzuschreiben, die mich das erste Jahr bewegt haben. Es ist keine Minute, keine Stunde, kein Tag vergangen, an dem ich nicht an dich, mein lieber Sohn, gedacht habe.

Der Tag, an dem ich aufhöre an dich zu denken, ist der Tag an dem ich nicht mehr bin.

Im Kondolenzbuch auf deiner Seite der Trauerhilfe habe ich dir immer wieder meine Gedanken und Gefühle mitgeteilt und dir jeden Tag eine Kerze angezündet bis zum heutigen Tag.

Dieser Schmerz war so lähmend, dass mir die alltäglichsten Dinge schwer gefallen sind. Dinge, die ich früher gerne gemacht habe, waren mir zuwider. Selbst die tägliche Morgentoilette hat mir als leidenschaftliche Duscherin Mühe bereitet. Nach dem ersten Schock kam dann die Erkenntnis von der Dimension: Nie wieder werde ich dich sehen, dich fühlen, nie wieder werde ich deine Stimme hören, nie wieder in deine tiefgründigen Augen sehen. Und man weiß nicht, was schlimmer ist, dieser brennende, stechende Schmerz oder diese unglaubliche Leere und Sehnsucht. Es gibt kaum etwas, was man tut, bei dem man nicht denkt: „Heute vor einem Jahr warst du noch da.“, „Heute vor einem Jahr haben wir das gemacht.“, „Heute vor einem Jahr war die Welt noch in Ordnung.“ Seit du gestorben bist, denke ich auch wieder oft an deine Oma Christine zurück, die dich bis zu ihrer letzten Stunde liebevoll betreut hat. Gespräche, die nun schon über 20 Jahre her sind, kamen mir wieder in den Sinn, als wären sie gerade erst gestern gewesen. Sie hat in Lebensphasen, in denen es mir nicht gut gegangen ist, immer wieder zu mir gesagt: „Gabi, wirst sehen, dir wird es einmal richtig gut gehen.“ Und diese Prophezeiung ist eingetreten. Seit ich mit dir und deiner Schwester in unsere Wohnung – unser kleines Paradies habe ich es immer genannt – eingezogen bin, hat mir die Welt gehört. Jeden Abend vor dem Einschlafen habe ich Gott gedankt für den gelebten Tag und jeden Morgen bin ich aufgewacht und habe den neuen Tag willkommen geheißen. Ich war so unglaublich dankbar für das Leben und habe mir gedacht, das Älterwerden ist einfach klasse. Mir geht es von Tag zu Tag besser. Nur eine einzige Sorge hat dieses Hochgefühl getrübt. Ich war ständig erfüllt von dem Gedanken, was ist, wenn ich einmal nicht mehr bin. Wer wird für dich sorgen? Auf dich Acht geben? Die Geduld mit dir haben? Deine Bedürfnisse erkennen? Der Gedanke, dich zurücklassen zu müssen war regelrecht quälend. Natürlich hast du einen Vater gehabt, der dich wirklich geliebt hat und alles für dich getan hat. Aber alleine hätte er es nie geschafft. Ich kann mich noch gut erinnern, wenn Kontrollarzttermine angestanden sind, war ich voller Angst vor einer möglichen Diagnose. Wenn ich dann die Bestätigung erhalten hatte, alles in bester Ordnung, habe ich die Ordination mit einem Glücksgefühl verlassen, das dem ähnelt, als ich von meinen Schwangerschaften erfuhr. So erleichtert war ich. Diesen Gedanken habe ich ständig innerlich formuliert und auch immer wieder gegenüber deiner Schwester geäußert: „Lieber Gott, tu, dass Christian vor mir geht und ich ihn nicht schutzlos auf dieser Welt zurücklassen muss. Lieber halte ich den Schmerz ein Leben lang aus.“ Nie und nimmer wäre mir eingefallen, dass diese Bitte so früh erfüllt wird. Ich hatte einen Lebensplan. Wir werden gemeinsam die Jahre verbringen und nachdem es nichts mehr gab, was ich noch erreichen wollte, solltest auch du von meiner Gelassenheit und inneren Ruhe profitieren. Ich kann mich noch gut erinnern an den späten Nachmittag vor deinem Tod. Du warst bei deinem Vater und ich habe deinen Bruder mit Christina eingeladen. Ich bin noch zum Reformhaus, um für Christina ein kleines Präsent zu besorgen. Ich bin durch den Geschäftsraum gegangen und habe im Vorbeigehen viele Produkte angesehen und mir gedacht. „Wenn wir zwei dann alleine sind – deine Schwester hat ja eine kleine eigene Wohnung in Aussicht gehabt – dann kaufe ich dir nur mehr wertvolle Produkte vom Reformhaus. Du sollst nur das Beste haben, was es gibt.“ Aber die Lebenspläne wurden je durchkreuzt und ich bin da und du bist fort.

So wie der Wind mit den Bäumen spielt, so spielt das Schicksal mit den Menschen. Man sieht sich, man lernt sich kennen, gewinnt sich lieb und muss sich trennen. Der Mensch kann viel ertragen und erleiden, er kann vom Liebsten in Wehmut scheiden. Er kann die Sonne meiden und das Licht, doch vergessen, was er einst geliebt, das kann er nicht.

 Wie oft habe ich mich in diesem ersten Trauerjahr an den Wunsch erinnert, dich nicht schutzlos zurückzulassen und zu deiner Schwester immer und immer wieder gesagt: „Ich wollte doch nicht jetzt. Ich habe mir vorgestellt, wenn ich einmal eine alte Frau bin und es absehbar ist, dass ich nicht mehr da sein werde.“ Sie hat es verstanden, wie so vieles. Meine Gedanken drehten sich um Strafe. Wurde ich bestraft von einer höheren Macht? War ich zu egoistisch? Sollte ich eines Besseren belehrt werden? Wiederum kamen mir Gespräche mit meiner Mutter in den Kopf. Als du noch ein kleiner Bub warst, warst du an vielen Wochenenden bei deiner geliebten Oma. Sie hat sich so gut um dich gekümmert. Einmal hat sie mich angerufen und zu mir gesagt: „Gabi, lass das mit deiner Matura nachholen. Christian ist sehr schlecht beinander. Du weißt nicht, wie lange du ihn noch haben wirst.“ Ich war entrüstet. Mein Vorhaben abbrechen. Das war nicht mein Ding. Wenn ich etwas angefangen hatte, habe ich das durchgezogen. Und wie oft war Christian in einem schlechten Zustand und wie oft hat er sich nach schlechten Phasen wieder erholt. Ein paar Wochen vor deinem Tod sind mir diese Sätze sehr oft in den Sinn gekommen und ich habe mit deiner Oma „im Himmel“ Zwiegespräche geführt: „Mama, kannst du dich noch erinnern, als du mir angeraten hast, die Abendschule zu lassen, weil es Christian so schlecht gegangen ist. Und heute. Ich habe die Matura gemacht, Christian lebt noch, ich habe ein Germanistikstudium absolviert und Christian lebt noch, ich habe die Pädagogische Hochschule abgeschlossen und Christian lebt noch. Jetzt schreibe ich an meiner Dissertation und Christian lebt noch. Mama, du warst ein schwacher Mensch. Ich dagegen bin stark und habe alles geschafft, was ich mir vorgenommen habe. Siehst du´s. Lange dauert es nicht mehr und ich habe auch dieses Projekt abgeschlossen. Also diese Prophezeiung ist nicht eingetreten.“ Dieses Gespräch oder besser diese Gedanken, die mir durch den Kopf gegangen sind, haben mich das erste Jahr begleitet. Wollte mir vielleicht meine Mutter im Jenseits sagen: „Ich bin nicht schwach, ich habe nur vieles gesehen, was du nicht wahrgenommen hast. Jetzt hast du die Quittung.“ Ja, ich habe Fehler gemacht. War von einem Ehrgeiz besessen. War egoistisch in der Verwirklichung meiner Pläne. Aber diese Strafe habe ich mir nicht verdient. Ist es strafbar, wenn man ehrgeizig ist? Ist es strafbar, fleißig zu sein? Ist es strafbar, sich Ziele zu setzen? All diese Fragen haben mich das erste Jahr begleitet und Schuldgefühle, Schuldgefühle, Schuldgefühle bis zum heutigen Tag. Das einzige, was ich mir nie vorwerfen könnte, dass ich mit dir, mein liebes Christianl, auch nur einen Tag launenhaft war, dass mir etwas zu viel war. Ob ich tagtäglich Berge von Wäsche gewaschen habe, in die Werkstätten gerannt bin, um nach dem Rechten sehen – all das war für mich kein Thema.

Was mich hart trifft und ich hätte es jedem sagen wollen, der mich danach gefragt hätte: Warum? Warum, gerade zu diesem Zeitpunkt? Warum gerade in jener Zeit, in der sich in meinem Herzen so eine Freude ausgebreitet hat, dass ich nun bald alles abgeschlossen habe und ich nur für dich da sein kann.

Mein liebes Christianl, du gingst fort, in meinem Zimmer klingt noch leis dein letztes Wort.Schöner Stunden matter Schimmer blieb zurück. Doch du bist fort. Lang noch seh ich steile Stufen, zögernd dich hinuntergehn, lang noch spür ich ungerufendich nach meinem Fenster sehn.
Oft hör ich ungesprochen stumm versinken manches Wort, oft noch das gewohnte Pochen an der Tür, doch du bist fort.
Du bist fort, Christianl, und nichts ist, wie es einmal war. Du fehlst!

Ich will die Zeit nicht verherrlichen. Es war das Arrangement mit deinem Vater nicht immer einfach. Wir sind einfach zu unterschiedlich. Das subjektive Gefühl der Abhängigkeit von anderen Menschen hat mich mit den Jahren ermüdet. Ich weiß noch gut, als ich einmal an deiner Werkstätte vorbeigefahren bin, habe ich mich bei dem Gedanken entdeckt, wie das wohl einmal sein wird, wenn ich mich nicht mehr damit auseinandersetzen muss, wie du betreut werden sollst. Wie viele Jahre habe ich mich darum bemüht, dass dir diese Betreuung zukommt, die du brauchst. Wie habe ich mich dagegen gewehrt, dass du mit Psychopharmaka ruhig gestellt wirst. Wie gerne hätte ich jetzt diese Auseinandersetzungen, wenn du grad wieder bei mir wärst. Alles würde ich in Kauf nehmen. All diese Gedanken haben das erste Trauerjahr geprägt. Das Leben dreht sich weiter und doch bleibt es stehen. Dein Zimmer ist so, wie du es verlassen hast. Deine Schuhe stehen dort, wo sie immer gestanden sind. Deine Jacken hängen auf der Garderobe, wo sie immer gehangen sind – im Sommer die Sommersachen, im Winter die Wintersachen. Und das wird auch so bleiben.

Ich habe versucht, wieder einen Lebensrhythmus zu finden, auch Kontakte zu knüpfen. Wenn ich mich mit „Freundinnen“ getroffen habe, hat mich das so viel Kraft gekostet. Von Trauer reden oder Trauer spüren lassen, ist schwierig. Davon berichten alle Betroffenen. Ich bin von Treffen ganz ausgelaugt nach Hause gekommen. Die Gesprächsthemen waren für mich so fremd, so bedeutungslos, bis heute.

Mein liebes Christianl, seit dem Tag, als Du uns genommen wurdest, stecken zwei Leben tief in mir. Das Heute in der jetzigen Zeit und mein anderes Leben in der Vergangenheit. Mein lächelndes Gesicht zeig ich im Heute, so wie es erwartet wird von den Leuten. Versteck meine Sorgen und mein Leid, so wie jeder mich kennt aus der anderen Zeit. Bin ich zuhause und in meiner Freizeit, darf ich endlich leben in der Vergangenheit. Muss nicht mehr verstecken mein gebrochenes Herz, darf sein, wie ich mich fühle, voller Schmerz. Hab endlich meine Maske beiseite gelegt, darf offen zeigen, was mich unentwegt quält. Die anderen Leute würden es nicht verstehen, denken alle, meine Trauer müsste langsam vergehn, drum zeig ich ihnen, was sie sehen wollen, spring hin und her zwischen zwei Rollen. Ich vermiss Dich so sehr.

Ich habe mir so sehr gewünscht, dass du mir wenigstens in den Träumen begegnest und mir ein Zeichen gibst. Viele Träume waren es nicht, einer hat sich allerdings in mein Gehirn wie eingebrannt. Ich träumte:

Ich war in der Stadt in einem Einkaufszentrum und bin einer Bekannten begegnet. Sie hat gesagt: „Du, ich habe Christian gesehen. Er ist hier im Haus.“ In diesem Traum war die Situation so, dass dein Vater bestimmt hatte, dass du in ein Heim sollst und wir dich nicht mehr sehen sollten, weil das besser für alle Beteiligten wäre (vollkommen abwegig, denn gerade dein Vater wollte dich nie bei fremden Leuten wissen). Ich fügte mich diesem Willen und in dem Augenblick als diese Bekannte mir gesagt hat, dass du in der Nähe bist, habe ich mir gedacht. Ich will jetzt meinen Christian wieder sehen und habe gefragt: „Wo ist er denn?“ „Im Erdgeschoss beim Arzt.“ Dieses Glücksgefühl und die Vorfreude dich wieder zu sehen, ist durch meinen ganzen Körper geströmt. Ich bin die Treppe hinuntergelaufen in die Ordination, habe die Ordinationshilfe gefragt, wo du seist. Sie hat darauf geantwortet. „Im Wartezimmer.“ Ich bin an Menschen vorbeigelaufen, in das Wartezimmer hinein und habe dich neben einer Betreuerin sitzen gesehen. Du hast einen leeren, traurigen Blick gehabt. Deine Betreuerin ist anteilnahmslos neben dir gesessen. Dann hat sich unser Blick getroffen. Du warst so erstaunt. Mir ist fast schlecht geworden vor Freude. Du bist aufgestanden und ich habe dich in den Arm genommen und wieder diese Wärme gespürt, die ich so vermisst hatte. Ich habe dich gedrückt und ausgekostet. Dann habe ich dich gefragt: „Christian, kannst du mir verzeihen?“ Im selben Moment warst du in der Stellung eines Läufers, der gerade zum Sprint ansetzt und hast den Kopf zu mir gewandt und mit Kopfschütteln verneint. 

An dieser Stelle bin ich aufgewacht. Wochen war ich wie benommen. War es ein Zeichen von dir?

Ach wär es doch nur ein Traum und ich könnte erwachen, du würdest zur mir rüberschauen und wir würden morgens wieder lachen.
Gingst du noch einmal durch den Garten mit schnellem Gang,
ich würde auf dich warten stundenlang.