Dunkel ist das Tal der Trauer, grau und trist ist diese Zeit. Niemand kann im Voraus sagen, ob der Weg ist noch weit. Durchgehen muss das Tal der Trauer, jeder der einen Lieben misst und es kann ihm keiner sagen, wie lang der Weg noch ist.

 Wenn es keinen Abschied gibt

 Nachdem ich den Anruf von meinem Ex-Mann erhalten hatte, dass mein Sohn gestorben war, rief ich ins Zimmer meiner Tochter: „Katharina, Christian ist tot“. Ihr Gesicht war wie versteinert. Sie tippte wie mechanisch die Nummer ihres Bruders ein. Was sie gesagt hat, weiß ich nicht. Schnell rief sie auch noch ihren Vater an, während wir zur Tür hinauseilten und ihr Gesicht erhellte sich und ihr Körper richtete sich auf als wäre noch nicht alles verloren. Ich spürte, dass Hoffnung in ihr keimte. „Die Rettung ist da. Papa übertreibt. Die Rettungsleute versorgen Christian, warum sollten sie denn sonst bei ihm sein.“ Mir war aber klar, dass es für uns keinen Christian mehr geben wird. Ins Auto einsteigend sah ich schon meinen Sohn und seine zukünftige Frau Christina mit entgeisterten Gesichtern herannahen.

Als wir uns dem Haus näherten, sahen wir schon von weitem zwei Rettungswagen. Wir stürmten in den 1. Stock, hinein in die Wohnung, an meinem Ex-Mann vorbei und ins Zimmer von Christian. Da lag er am Boden. Die Rettungsleute gingen an mir vorbei. Es brauchte keine Worte mehr. Ich kniete mich neben Christian, streichelte ihn, legte ihm einen Polster unter seinen Kopf, nannte unzählige Male seinen Kosenamen: „Christianl, was hast du denn bloß gemacht?“ Man kann dieses Gefühl nicht beschreiben. Es muss einen Schutzmechanismus geben, dass man in so einer Situation nicht durchdreht. Einige Zeit später – Zeitgefühl hat man sowieso keines mehr – kamen zwei Damen aus dem Kriseninterventionsteam. Sie waren wirklich bemüht. Christian braucht die letzte Ölung. So heißt es zumindest. Wer in der Pfarre angerufen hat, weiß ich nicht. In jedem Fall hörte ich: „Geht nicht, der Pfarrer ist Skifahren.“ Eine Dame aus dem Team war entrüstet und hat gemeint, es müsste doch in einer der umliegenden Nachbargemeinden einen Geistlichen geben, der das übernehmen würde. Ich habe alles nur schemenhaft mitbekommen. Kurze Zeit später kam ein älterer Pfarrer und erteilte meinem Sohn die letzte Ölung, während ich immer noch neben ihm am Boden kniete. Es sah aus, als würde er schlafen. Ich nahm seine Hand und dachte mir: „Sogar im Tod ist er noch schön.“ Plötzlich stand der Amtsarzt hinter mir. Er strahlte eine Ruhe aus und sagte sofort: „Tut mir leid, ich kann sie nicht trösten.“ Das habe ich auch gar nicht erwartet. Aber es gibt Menschen, die empfindet man als angenehm. Er war so ein Mensch. Ob ich ihm berichtet habe oder mein Ex-Mann, was sich zugetragen hat bzw. was wir mutmaßten, was sich in der Nacht zugetragen haben könnte, weiß ich auch nicht. In Erinnerung ist mir nur, dass der Arzt eine Obduktion angeordnet hat mit den Worten: „Damit sie sich später keine Vorwürfe machen brauchen“. Diese bleiben mir mein restliches Leben wohl nicht erspart. Alles ging so schnell. Eine Dame des Kriseninterventionsteams kam immer wieder zu mir ins Zimmer und redete sehr viel und brachte Schokolade und sagte, ich müsse jetzt auch an mich denken. Sie hat es gut gemeint, aber ich empfand es in diesem Augenblick nur störend. Ich wollte mit meinem Sohn alleine sein, mit ihm sprechen, mich von ihm verabschieden, ihm so vieles erklären, mich bei ihm entschuldigen. Aber: Ich drehte mich um und sah zwei Männer mit einem weißen Plastiksack. Mein Ex-Mann und mein Sohn traten hinzu und sagten, das müsse jetzt sein. Ich solle in ein anderes Zimmer gehen. Ich war viel zu verstört, um mich zu wehren, ging wie ferngesteuert in das Zimmer nebenan. Im Nachhinein weiß man es besser. Wäre ich nicht so unter Schock gestanden, hätte ich veranlasst, Christians Bett zu überziehen, ihn hineinzulegen, Kerzen anzuzünden, Blumen zu holen und ihn zumindest noch für ein paar Stunden bei seiner Familie zu belassen.

Nun läuft eine Maschinerie, der sich in so einer Situation niemand entziehen kann. Zum Bestatter gehen, alles Behördliche erledigen. Ich konnte mich noch gut an die Abläufe erinnern als meine Mutter verstorben war. Es war so einfühlsam und der traurigen Situation angemessen. Aber da sollte ich mich eines Besseren belehren lassen. Während des Gesprächs mit dem Bestatter läutete unentwegt das Telefon, eine jüngere Dame kam nonstop ins Zimmer, um Papier zu „zerschreddern“, was einen Höllenlärm machte. Die Textbausteine einer Traueranzeige eines kürzlich Verstorbenen wurden vor uns gelöscht und gefragt, was wir für einen Text wollten und welchen Hintergrund. Ich glaubte zu spüren, dass es dem Bestatter lästig war, dass die ganze Familie gekommen war, um alles zu regeln. Die hektische Situation wurde mir zu viel und ich habe gebeten, ob man diese Angelegenheit nicht etwas pietätvoller abhandeln könnte. Meine Tochter ging derweilen zu der Frau, die ständig ins Zimmer kam und bat sie, das doch, solange wir hier wären, zu unterlassen. Sie bekam allerdings nur zur Antwort, dass auch andere Menschen sterben. Natürlich ist das ein Unternehmen und man kann wirklich nicht erwarten, dass da jemand, dem das sein tägliches Brot ist, in ein tiefes Mitgefühl ausbricht. Aber diese Situation war würdelos.

Inzwischen ist meine Schwester gekommen, um uns zumindest für ein paar Stunden beizustehen. Ich bin ihr noch heute dankbar dafür. Einfühlsam hat sie uns geholfen, den Gottesdienst zu planen und die Fürbitten zu formulieren und sie hat mich einfach still in den Arm genommen.

Am Montag war die Obduktion anberaumt und um 17.00 Uhr konnten wir unseren Christian noch einmal sehen. Die ganze Familie fuhr in die Leichenhalle. Meine Tochter und ich wollten unbedingt Christian anziehen. Das wurde uns abgeraten. Wir sollten Christian so in Erinnerung behalten wie er war. Leider hatte ich zu wenig Rückgrat und ließ mich von unserem Vorhaben abbringen. Hätte meine starke Tochter meine Unterstützung gehabt, wäre uns zumindest diese Zeit mit ihm geblieben. So einigten wir uns, dass wir ihm zumindest symbolisch die Socken anziehen dürfen. Meine Tochter und ich gingen in die Halle und sahen meinen Sohn im Sarg liegen, ruhig als würde er nur schlafen. Ich war ganz darauf eingestellt, dass wir nun noch einige Zeit mit ihm verbringen dürften. Fehlanzeige. Der Angestellte der Bestatterfirma kam alle paar Minuten zu uns, wann wir endlich fertig wären. Ich bat ihm flehentlich: „Bitte, geben Sie mir ein bisschen Zeit. Ich möchte mich von meinem Sohn verabschieden.“ Das hat nichts genützt – 17.00 Uhr, wahrscheinlich Dienstende. So ist es mir mehr schlecht als recht gelungen mit einer Schere, die ich in der Nähe gefunden hatte, eine kleine Haarsträhne von seinem blutverschmierten Haar abzuschneiden. Der Druck war zu groß. Ich streichelte meinem Sohn das letzte Mal übers Haar, gab ihm einen letzten Kuss und ging hinaus.

Diese Zeilen sind nicht als Anklage gedacht. Das wäre hier auf diesen Erinnerungsseiten für meinen Sohn auch nicht der richtige Platz. Vielmehr möchte ich zum Ausdruck bringen, wie traurig ich darüber bin, nicht einmal die Möglichkeit gehabt zu haben, in ruhigen Minuten Abschied von meinem Sohn nehmen zu können, weil sich die Ereignisse so überschlagen haben. Wie sehr habe ich all die Zeit jene Menschen beneidet, die bei aller Tragik eines Verlustes berichten konnten, dass der geliebte Mensch im Kreise der Familie verstorben ist.

Ich musste mich zusammennehmen, um Christian zumindest eine würdevolle Verabschiedung zu ermöglichen. Ich habe während der ganzen Tage nicht ein einziges Mal weinen können. Ich war wie erstarrt. Ich war über mich selber irritiert, dass Mitmenschen mit Tränen in den Augen ihr Mitgefühl ausgedrückt haben und ich nicht einmal ein Taschentuch gebraucht habe. Geweint habe ich später, als ich begonnen habe zu realisieren, was es bedeutet: „Nie mehr wieder werde ich dich sehen.“

Viele Menschen haben meinem Sohn die letzte Ehre erwiesen, Blumen und Kerzen gebracht. Besonders berührt hat mich, dass viele meiner Schüler und Schülerinnen beim Seelengottesdienst anwesend waren. Ich danke ihnen so sehr dafür. Christian wurde zumindest würdevoll verabschiedet – dafür konnte ich sorgen.