So bin ich doch nur Gast auf dieser Erde, auf der ich mich so heimisch fühlte, auf der ich Weggefährten fand, Freundschaften schloss und Menschen lieb gewann.
Und wie seit ewigen Zeiten ein jeder Mensch nur Wanderer ist auf dieser Welt, so bin auch ich nur auf dem Weg.
Woher ich kam, ich weiß es nicht, wohin ich geh ist ungewiss. Gewiss nur ist, dass es kein Bleiben gibt, die Ewigkeit ist nicht auf dieser Welt.
Wie ein jeder Gast seit eh und je einst kam und wieder Abschied nimmt, so ist es nun an mir zu gehen.
Das Ziel liegt noch vor mir.Ich zögere nicht. So reichen wir uns nun die Hand und sagen wehmütig auf Wiedersehn.
Vielleicht, ich denke schon, gibt es ein Ziel, an dem wir uns einst wiedersehn, denn Wanderer bist auch du.
Bis dann, auf Wiedersehn.

Christian und Nadine

Nachdem ich eineinhalb Jahre nach der Scheidung endlich eine eigene Wohnung gefunden hatte und es aufgrund der sehr angespannten Lage einmal zur Funkstille zwischen meinem Exmann und mir gekommen war, war es mir ganz wichtig, dass Christian auch männliche Bezugspersonen hat. Ich wusste, dass die Lebenshilfe Tirol einen neuen Bereich anbot: Frühförderung & Familienbegleitung, Freizeitassistenz & Familienentlastung. Dieses Angebot war wie auf uns zugeschnitten. Nach einem individuellen Bedarfsgespräch kommt entweder ein Assistent oder eine Assistentin, um ein paar Stunden in der Woche die Freizeit mit einem Menschen mit Behinderung zu gestalten. Dies sollte Entlastung für Familien bedeuten. Ich habe dieses Angebot nur zu gerne angenommen. Der Beweggrund war aber in meinem Fall nicht, um mich zu entlasten, sondern Christian ein soziales Netz zu spannen. Ich selber war aufgrund Christians Verhalten immer derart in Sorge, wenn er mit fremden Menschen zusammen war, dass ich diese Zeit immer als sehr anstrengend empfunden habe. Läuft Christian wohl nicht davon? Weiß der Betreuer oder die Betreuerin, was in dieser oder jener Situation zu tun ist? Ich habe mir ständig Sorgen gemacht und dies nicht zu unrecht. Zu viel war schon vorgefallen.

Christian musste in seinem Leben viel aushalten: den plötzlichen Tod seiner geliebten Großmutter Christine; die traurige Ehe seiner Eltern; den Wechsel von seiner Schule, in die er so gerne ging, in eine Werkstätte, in der er sich nicht wohl gefühlt hat. Er konnte außer ein paar elementare Drei-Wort-Sätze nicht sprechen. Niemals konnte er sich seine Sorgen von der Seele sprechen, war den Situationen immer so ausgeliefert, wie sie waren. Das forderte mit den Jahren seinen Tribut. Aus dem gutmütigen, ausgeglichenen Buben ist ein junger Mann geworden, der seine Emotionen schwer unter Kontrolle hatte. Er drückte sein Unbehagen, seine Unsicherheit, seine Ängste, aber auch seine körperlichen Schmerzen dadurch aus, dass er andere Menschen kniff und mitunter auch einmal zuschlug. Das kam zu seiner schweren Form der Epilepsie noch hinzu. Alles in allem für Menschen, die auf Christian zukamen, nicht einfach. Und so fiel das Projekt einmal für uns fürs erste ins Wasser. Eine Freizeitassistenz hat die andere abgelöst und es wollte einfach nicht funktionieren. Einige fürchteten sich regelrecht vor Christian, einige lehnte Christian so vehement ab, dass ich die Vereinbarungen löste, einige waren unmotiviert und sahen in diesen Stunden einen guten Zuverdienst, waren aber nicht wirklich bei der Sache. Ein Umstand, den Christian intuitiv sofort spürte.

Inzwischen haben sich die Wogen geglättet und mein Ex-Mann und ich haben uns im Sinne von Christian arrangiert. Es hat sich eine gute Regelung gefunden, die Christian ermöglichte, gleichermaßen bei Mama und Papa zu sein. Dennoch, an diesem Projekt hielt ich fest. Ich war überzeugt, dass die Freizeitassistenz für Christian eine Chance bedeutet, Menschen  kennenzulernen und es auch einmal zu genießen, abgesehen von Mama und Papa, die Freizeit zu verbringen. Für mich bedeutete es aber auch, mir ein gutes Stück Unabhängigkeit von meinem Ex-Mann zu bewahren. Ich war berufstätig und Christian Epileptiker. Meine große Sorge war immer, was tun, wenn er in der Nacht einen Anfall hat und so schlecht beisammen ist, dass er nicht in die Werkstätte gehen kann. Wie oft habe ich ihn trotzdem schicken müssen. Er ist tapfer aufgestanden und mit dem Bus mitgefahren. Wie oft hat es mir in der Seele wehgetan. Wie viel würde ich heute anders machen.

Die Freizeitassistenz war meine Rettung. Ich kam auf die Bereichsleitung zu und schilderte meine Situation. Die stundenweise Nachmittagsgestaltung hat nicht funktioniert. Vielleicht klappt es ja mit folgendem Modell: Ich schlug vor, dass an jenen Tagen, an denen ich arbeitete, in der Früh jemand auf Bereitschaft ist. Wenn Christian keinen Anfall hat, brauche ich niemanden, weil er ja in die Werkstätte geht. Sollte mein Sohn allerdings einen Anfall haben, dann sollte jemand kommen und auf ihn schauen, bis er wieder soweit erholt ist, dass ihn sein Vater holen kann oder bis ich von der Arbeit komme. Das war leider nicht möglich. Denn die Betreuerinnen mussten ja in Abstimmung mit anderen Klienten in einen fixen Arbeitsrhythmus eingebunden sein. Es kam folgender Gegenvorschlag. An jenen drei Tagen, an denen ich aus dem Haus musste, würde eine Betreuerin kommen und Christian duschen, mit ihm frühstücken und ihn zu guter Letzt zum Bus bringen. Zuerst war ich nicht so begeistert, denn die Morgenzeit und das gemeinsame Frühstück waren für uns ein Ritual. Ein guter Start in den Tag. Das war die Zeit, in der ich mir immer ausreichend Zeit genommen habe. Aber das Angebot musste ich annehmen und es hat sich dann auch als einfach perfekt herausgestellt. Es kommt jemand, ich bin noch da im Hintergrund und wenn Christian einen Anfall hat, kann ich trotzdem gehen und ich weiß, er muss nicht mehr erschöpft aus dem Haus. Und so trat Nadine Fuchs in unser Leben.

Nadine Fuchs – Christians Wegbegleiterin 

Ich war sehr aufgeregt, wen die Bereichsleitung für Christian vorsehen würde. Mein Sohn war kein unbeschriebenes Blatt. Man wusste, dass die Betreuung aus den gegebenen Umständen nicht einfach war. Würde sie bleiben oder auch aufgeben nach zwei bis drei Besuchen? Was dann? „Die Einlernzeit“ war für mich immer sehr anstrengend. Ich habe jedem Menschen, den ich Christian anvertraute, penibel genau geschildert, worauf es bei Christian ankommt, was seine Bedürfnisse sind, was er nicht so gerne mag und vieles mehr. Das war alles andere als einfach und dabei ist es mitunter trotz der gebotenen Schwierigkeiten auch zu lustigen Situationen gekommen.

Nadine stellte sich vor und sie war mir von der ersten Minute an sympathisch. Ruhig und zurückhaltend und sehr professionell. Wir haben genau abgesprochen, was in welcher Minute zu geschehen hat. Wie sollte Christian geduscht werden, wie erfolgt das Frühstück, wie die Übergabe im Bus? Alles war ja genau getaktet.

Wie angespannt ich war. Die ersten Wochen bin ich immer noch anwesend gewesen. Dann wollte ich mich langsam zurückziehen und schauen, wie es funktioniert, wenn ich „anscheinend“ nicht da bin. Ich habe mich in der Zeit ins Schlafzimmer zurückgezogen und gelauscht, was sie machen. Alles ist so ruhig abgelaufen. Ich glaube schon, dass Nadine den einen oder anderen Zwicker oder Tritt abbekommen hat. Sie hat sich aber nie bei mir beklagt, nie aus einer Mücke einen Elefanten gemacht. Und ich spürte immer mehr, wie Christian Vertrauen in sie gewinnt. Die erste Person seit vielen, vielen, vielen Jahren, die Christian außer seiner Familie an sich heranließ. Ich war so froh. Nicht nur, weil dadurch mein Arbeitsleben gesichert war, sondern vielmehr, weil es der „Beweis“ war, dass Christian auch mit anderen Menschen zusammen sein kann, wenn das nötige Einfühlungsvermögen vorhanden ist. Das war ein großer Verdienst von Nadine und zeigte, was mit Geduld alles möglich ist. Die Wochen vergehen, die Monate vergehen und Nadine zählte schon fix zu uns. Christian hatte sie nicht nur akzeptiert, sondern richtig lieb gewonnen. Die Tage, an denen sie kam, war die Zeit, die er mit ihr alleine verbringen wollte. Als einmal seine Schwester, die er wirklich über alles liebte, mit frühstücken wollte, hat er ihr sein Unbehagen deutlich zum Ausdruck gebracht – so war er – unser Christian.

Nadine hat mehr gemacht als „nur“ an den drei Tagen zum Morgenritual zu kommen. Sie hat Christian nie vergessen, wenn ein Anlass war: Ob Geburtstag, Ostern, Weihnachten oder sonst eine Feierlichkeit. Sie hat immer an ihn gedacht und ihm eine Aufmerksamkeit mitgebracht. Wie sehr haben wir uns immer darüber gefreut.

Liebe Nadine,

ich danke dir für die Zeit, die du für Christian da warst und vor allem, dass du ihn so akzeptiert hast wie er war. Er hat das gespürt. Du hast dich Christian zugewandt, hast nicht bei der ersten Schwierigkeit aufgegeben und warst ihm eine treue Wegbegleiterin. Kannst du dich noch erinnern an die Glocken? Um Punkt sieben bist du gekommen. Um Punkt sieben haben die Glocken geläutet. Diese Glocken läuten für dich.